Von Satan zu Mose
Im Dezember erhielten wir erneut einen Bericht aus dem Kriegstagebuch von Anatoliy Raychynets, dem stellvertretenden Generalsekretär der Ukrainischen Bibelgesellschaft, den wir gerne mit Ihnen teilen möchten.
Heute Morgen, auf dem Weg zu den Gefechtsstellungen, hielten wir an einigen versteckten alten Gebäuden, in denen sich unsere Soldaten – unsere Verteidiger – ausruhten. Entlang der Frontlinie zogen sich die Narben des Krieges soweit das Auge reichte; sie waren frisch und roh. Die Erde unter uns bebte von Explosionen. Der Wind trug Rauch und Schwefel mit sich und hinterliess einen bitteren Geschmack, der sich anfühlte, als würde er in unseren Zähnen knirschen. Wir betraten einen dunklen Raum. Als sich unsere Augen an das schwache Licht gewöhnt hatten, bemerkten wir in der Mitte einen kleinen Ofen, dessen Wärme sich in dem kalten Raum ausbreitete und den frierenden Soldaten etwas Trost spendete. Um den Ofen herum konnten wir viele Soldaten sehen, die sich auf Munitionskisten und Verschlägen ausruhten. Über ihnen hingen feuchte Kleider an Schnürsenkeln, die wie ein Spinnennetz an der Decke befestigt waren, und um uns herum versammelten sich Soldaten auf Bänken, während andere auf ihren behelfsmässigen „Betten“ sitzen blieben. Wir begannen unser Gespräch.
Unter ihnen war ein etwa 60 jähriger Mann. Als Bischof Valery Antonyuk während des Gesprächs den Satan erwähnte, brachen alle in Gelächter aus. Zuerst verstanden wir nicht, wieso sie so reagierten. Später erklärte der Kommandant, dass der Soldat, der neben uns sass, als Rufzeichen den Übernamen „Satan“ trug.
Der Verteidiger, der sich als Satan zu erkennen gab, verwandelte unser Gespräch in eine spannende Diskussion mit Fragen und Kommentaren, die zum Nachdenken anregten. Zuerst bezeichnete er sich als Agnostiker, dann behauptete er, dass der Buddhismus die beste Religion sei, und bestand darauf, dass Satan nie jemanden gezwungen habe, Böses zu tun. Er behauptete, Satan sei ein Sohn Gottes, der seinem Vater nur nicht gehorcht habe, und er behauptete, Satan habe nie gelogen und täusche die Menschen auch heute nicht. Er forderte uns heraus, Gott zu fragen: Warum Krieg? Warum Blutvergießen? Warum müssen Kinder sterben?
Während des gesamten Treffens ähnelte dieser Soldat in mancher Hinsicht wirklich dem Charakter Satans. Pater Vasyl nahm die Bibel zur Hand und las den Bericht darüber vor, wie Eva und Adam verführt wurden – der Anfang der Lüge. Die anschliessende Diskussion war lebhaft und tiefgründig, da wir uns mit existenziellen Fragen auseinandersetzten. „Satan“ erzählte dann die Geschichte hinter seinem Übernamen. Er stammte aus Luhansk, das jetzt von den Russen besetzt ist. Seine Eltern blieben dort und unterstützten als Separatisten den Feind. Er sagte, er habe seinem Vater nicht gehorcht und sei gezwungen worden, das Land zu verlassen, und jetzt kommuniziere er nicht mehr mit seinen Eltern.
Als er sprach, war jedes Wort von tiefem Schmerz geprägt. Ich las eine Passage aus Psalm 119, Verse 84-94, und eine schwere Stille legte sich über den Raum. Am Ende unseres Treffens schlugen wir vor, gemeinsam zu beten. Das Gebet war angesichts der intensiven Atmosphäre von Herzen kommend. Wir befanden uns hier in einem dunklen Schuppen und diskutierten über Satan, während draussen Bomben explodierten. Sobald das Gebet beendet war, fragte Satan laut: „Kann ich eine Bibel haben?“ Pater Vasyl gab ihm eine. Dann fragte der Soldat, ob er jeden von uns umarmen dürfe. Der Krieg hatte ihm seine Eltern und seine Heimatstadt geraubt. Der Schmerz, den er empfand, war unerträglich.
Als wir uns verabschiedeten, erzählte ein anderer Soldat seine Geschichte. Er stammte ebenfalls aus Luhansk. Seine Eltern unterstützten die Ukraine und zahlten den höchsten Preis. Sie starben während der Kämpfe, als der Feind die Region Luhansk einnahm. Leise fragte er: „Ich habe zwar nicht den Übernamen Satan, aber könnte ich eine Bibel haben? Ich habe nie eine gehabt, aber meine Mutter hat mir als Kind immer aus der Bibel vorgelesen“, antwortete er. Sein Name war Ilja und er war 52 Jahre alt. Als wir zum Auto zurückgingen, wandte sich Bischof Valeriy Antonyuk an „Satan“, der bei seiner Verabschiedung die Bibel fest umklammerte. „Wir geben dir einen neuen Namen“, sagte der Bischof. „Moses.“
Text: Anatoliy Raychynets UkBG
1000 Tage Krieg
Seit mehr als 1000 Tagen führt Russland neben den militärischen Angriffen eine Zermürbungstaktik gegen die Zivilbevölkerung. Das Team der UkBG versucht in dieser schwierigen Situation den Mut nicht zu verlieren und den Menschen Mut zu machen.
Dankesworte von Pfarrer Anatoliy Raychynets UkBG
„Heute hatten wir wieder eine schreckliche Nacht“, schreibt Anatoliy Raychynets, stellvertretender Generalsekretär der Ukrainischen Bibelgesellschaft am 13. November 2024.
„Russland intensiviert seine Schläge und zielt nachts auf ukrainische Städte. Die Kinder hätten während der letzten zwei Wochen mehr Zeit in den Luftschutzkellern verbracht als in Klassenzimmern. Die Menschen sind psychisch, emotional und physisch erschöpft. Menschen sterben jeden Tag. Heute Morgen hörte ich Explosionen und sah Rauchsäulen unweit des Büros der Bibelgesellschaft. Ich machte mich schnell bereit, zum Büro zu gehen. Aber die Strasse war bereits wegen der Trümmer iranischer Drohnen, die das Gebiet getroffen hatten, blockiert. Ich erfuhr, dass sich die Explosionen etwa 700 Meter von unserem Büro entfernt ereigneten, was mich etwas beruhigte.
Während der Angriffe werden spezielle mobile Luftabwehrteams, die mit Flugabwehrkanonen und Maschinengewehren ausgerüstet sind, an allen Brücken eingesetzt, um die tödlichen Waffen abzuschiessen, mit denen der Feind uns jeden Tag terrorisiert. Mein Sohn Georgi, meine Tochter Kristina und ich bringen ihnen oft heissen Kaffee und belegte Brote, um ihnen dafür zu danken, dass sie uns beschützen, oft unter Einsatz ihres eigenen Lebens, unabhängig von Wetter und Tageszeit.
Heute musste ich meine Mission abbrechen, weil die Strasse blockiert war, und so beschloss ich, die Soldaten in unserer Nähe mit Kaffee zu verwöhnen. Es war -2 Grad am Morgen, und es wehte ein beissender kalter Wind. Ich fuhr vor und bot ihnen heissen Kaffee an, den sie gerne annahmen und sich bei mir bedankten.
Einer von ihnen, der etwa 60 Jahre alt aussah und auf der Ladefläche eines Pickups stand, bemerkte eine Bibel auf dem Armaturenbrett meines Kleinbusses und fragte: „Ist das eine Bibel? „Ja“, antwortete ich. Dann sagte er: „Meine Grossmutter hat mir als Kind immer aus der Bibel vorgelesen. Ich suche schon lange nach einer Bibel, denn mein Herz ist schwer.“
In diesem Moment riefen ihn andere Soldaten, um beim Nachladen eines Maschinengewehrs zu helfen. „Kann ich eine Bibel haben? fragte er. Aber ich habe kein Geld dabei, um sie zu bezahlen.
Ich reichte ihm schnell die Bibel, denn die anderen Soldaten drängten ihn, wegen der Luftschutzsirene sofort zu gehen.
Der Mann nahm die Bibel und küsste sie andächtig. Als er sie mir eilig aus der Hand nahm, zog er seinen Hut aus, da er den Wert dieses Buches erkannte.
Ich musste gehen, ohne seinen Namen zu kennen. Aber ich betete im Stillen zu Gott, dass er an diesem Tag durch die Bibel zu diesem älteren Soldaten sprechen möge.
In diesen beinahe 1000 Tagen des Krieges habe ich zahlreiche Menschen kennengelernt, die nach der Stimme Gottes in ihrem Leben suchen. Viele von ihnen waren zuvor nie in einer Kirche, doch irgendwo auf ihrer Reise vernahmen sie etwas, das sie nun, unter den extremen Bedingungen des Krieges, veranlasst, nach Hoffnung, Trost und etwas Wahrhaftigem zu streben. Ich bin Gott dankbar, dass er mich heute Morgen, als meine Kraft und Inspiration schwanden, daran erinnerte, dass viele auch inmitten des Grauens des Krieges Gemeinschaft mit ihm suchen. Danke, liebe Freunde, dass ihr durch euer Gebet die Antwort auf die Suche eines Menschen seid!
Pfarrer Anatoliy Raychynets
Stellvertretender Generalsekretär der Ukrainischen Bibelgesellschaft
Der Herr ist mein Hirte
Im September berichtete die Ukrainische Bibelgesellschaft (UkBG) von einem ihrer seelsorgerischen Einsätze. Die Seelsorger Vasyl Lutsyshyn und Anatoliy Raychynets besuchten den Osten des Landes. Sie beteten mit den Soldaten, verteilten lebenswichtige Güter und inspizierten eine Werkstatt, in der beschädigte schwere Ausrüstung der Soldaten repariert wird.
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Besuche beim militärischen Personal in den Stellungen
Für Raychynets und sein Kollege war es ein unvergessliches Erlebnis, als sie morgens in einer Bäckerei frische Kuchen und Brötchen bestellten und zu den Soldaten in den Wald brachten:
„Auf der Suche nach „unserer“ Einheit trafen wir zwei Soldaten einer anderen Einheit. Wir sagten ihnen, dass wir Seelsorger sind und Soldaten der Brigade xx suchen. Und als wir gingen, haben wir ihnen frischen Kuchen gegeben, der noch warm war. Ich wünschte, Sie hätten ihre Überraschung, ihre Dankbarkeit und diesen Ausbruch einer erstaunlichen Bandbreite an positiven Gefühlen miterleben können. Das ist einer der Momente, in denen man diesen Segen besonders spürt – Geben ist seliger als Nehmen!“ (Apg 20,35)
Warum Autoreifen wichtig sind
Täglich beginnen sie ihre Mission im Osten des Landes mit einem Gebet. Danach begeben sie sich zum Fahrzeug und entladen die mitgebrachten Güter. Neben Hygieneartikeln und medizinischer Ausrüstung sind auch Autoreifen Teil der wichtigen Fracht. Autoreifen sei für die Menschen, die zu den Menschen gehen wollen, um ihnen zu helfen unerlässlich, schreibt Rostyslav Stasyuk, Kommunikationsverantwortlicher der UkBG: „Viele Christen eröffnen in vielen Frontstädten Autowerkstätten, um den Soldaten bei der Reparatur ihrer Fahrzeuge zu helfen. Andere Christen und die Bibelgesellschaft kommen oft zu diesen Werkstätten, um kostenlos neue Reifen, andere Ersatzteile, Lebensmittel und Bibeln zu bringen, denn diese Läden sind zu einer Art Knotenpunkt geworden, an dem täglich viele Soldaten vorbeikommen.“ Der Bedarf an Reifen ist riesig, denn das das Militär ist auf Autos angewiesen. Ihr Leben hängt davon ab. So sagte einer der helfenden Christen: „Würden Sie gerne in einem schnellen Auto mit schlechten Reifen gefahren werden?“
Besuch einer Reparaturwerkstätte
Die Seelsorger der UkBG besuchten auch eine Reparaturwerkstätte, wo Arbeiter beschädigtes schweres Material reparieren. Diese richteten Grüsse und Dank an die Soldaten aus für deren schwere Arbeit. Raychynets und Lutsyshyn verteilten jedem von ihnen ein Evangelium, sowie Kinderbibeln für ihre Kinder und Enkelkinder.
Der Bericht Anatoliy Raychynets endet mit: «Das Dauerfeuer im Donbas geht weiter. Wir arbeiten und verlieren die Hoffnung nicht. Dank sei Gott für Alles»
Wir sammeln nach wie vor Spenden für wichtige Arbeit der Ukrainischen Bibelgesellschaft.