Mei Wangs Weg zur Bibel
Mei Wang wuchs in China zur Zeit der Kulturrevolution auf – in einer Welt, in der Christen ihren Glauben geheim halten mussten und die Bibel ein rares, kostbares Buch war. Heute arbeitet sie in einer christlichen Stiftung und empfindet jedes gedruckte Exemplar als ein Wunder.
Die erste Kindheitserinnerung von Mei Wang* ist, dass ihr Grossvater Bibeltexte von Hand abschrieb. In seiner Kirche gab es nur eine einzige Bibel. Mei Wang wurde gegen Ende der Kulturrevolution in China geboren, die von 1966 bis 1976 dauerte. Als kleines Mädchen verstand sie noch nicht, was um sie herum passierte. Sie blieb von der brutalen Verfolgung verschont, bekam nicht mit, dass die Kirche in dieser Zeit nur im Untergrund überleben konnte. Dass die Christen ihren Glauben für sich behalten mussten.
Erst Anfang der 1980er-Jahre wurde es den Christen erlaubt, ihren Glauben öffentlich zu leben. Inzwischen war Mei Wang alt genug, um zu verstehen, was geschah. Sie hörte, wie ihr Grossvater von Christen erzählte, die sich danach sehnten, zusammen zu beten und in der Bibel zu lesen. Aber ihr fiel auch auf, dass es kaum Bibeln gab. In ihrer Kirche hatten sie gerade mal ein einziges altes Exemplar, das sie sich teilen mussten. Deshalb schrieb ihr Grossvater noch immer stundenlang Bibeltexte von Hand ab. Er tat es mit Hingabe, schrieb die Wörter in feinster Kalligrafie.
Mei Wang ist Christin in vierter Generation. Heute arbeitet sie bei der Amity Stiftung, die zusammen mit dem Weltbund die Bibeldruckerei in Nanjing betreibt. Sie geht oft in die grosse Werkshalle. Dort geniesst sie den Geruch der Druckerfarbe und bewundert die vielen Stapel von Bibeln in verschiedenen Sprachen. »All dies ist das Wort Gottes, das sich auf den Weg in die Welt macht!«, sagt sie, fast ein wenig ungläubig. Mei Wang weiss zu schätzen, was sie sieht. Sie weiss, was es heisst, sich nach einer Bibel zu sehnen, die man in die Hand nehmen kann. Deshalb ist das, was in der Druckerei geschieht, für sie vor allem eins: ein Wunder.
Mei Wang erinnert sich an die Grossmutter ihres Mannes, die weder eine Ausbildung noch eine eigene Bibel hatte, aber Bibelverse auswendig lernte. Und an Mitstudierende am theologischen Seminar, die sich immer die Hände wuschen, bevor sie ihre Bibeln anfassten – damit diese nicht schmutzig wurden und möglichst lange hielten. Das Aufwachsen ohne Bibel vermittelte ihnen einen grossen Respekt vor diesem Buch. »Meine Erfahrungen als Kind und Jugendliche haben die Bibel für mich sehr wertvoll gemacht. Mein Traum ist es, dass jeder in China sein eigenes Exemplar bekommen kann.«
*Name von der Redaktion geändert

Kari Fure, Norwegische Bibelgesellschaft
