Warum aufbrechen

Es ist nicht leicht, die Heimat zu verlassen, alle diejenigen zurückzulassen, die man gern hat, ohne zu wissen, was die Zukunft bringen wird.

Die Bibel erzählt viele Geschichten von Menschen, die ihre Heimat verlassen haben. Einige sind freiwillig aufgebrochen, wie Abraham, den Gott berufen hat. Andere wurden ausgewiesen oder verschleppt. Wieder andere mussten fliehen, weil sie verfolgt wurden oder ihr Leben zu hart war.

Sehr oft war es eine schwierige Situation, die sie zum Aufbruch gezwungen hat, die Hoffnung auf ein besseres Leben an einem anderen Ort. Zwischen dem, was zurückgelassen wurde, und dem, worauf die Hoffnung ruht, öffnet sich ein Weg für Versuche, Freuden und Enttäuschungen. Die folgenden Porträts von sieben Menschen geben einen Einblick auf ihre lange Reise ins Ungewisse.

Ein Traum und eine Illusion

Als ich sechs Jahre alt war, verließ ich China und kam mit meinem Bruder und meinem Onkel nach Europa. Dies war im Rahmen der Familienzusammenführung möglich. Meine Eltern hatten die Heimat vier Jahre zuvor verlassen und wir hatten in dieser Zeit – bis auf ein paar wenige Fotos – nur sehr wenig Kontakt mit ihnen. Ich fühlte mich fast wie ein Waisenkind. Wenn ich Fragen stellte, sagten meine Verwandten: „Deine Eltern sind in den Westen gegangen, um dort zu arbeiten.“
Tatsächlich aber hatten sie alles aufs Spiel gesetzt um in ein Land zu kommen, über das sie nichts wussten – außer, dass die Löhne für die gleiche Arbeit zehn Mal höher seien als ihn China. Jedenfalls hatte man ihnen das erzählt. Aber meine Eltern sollten rasch merken, dass man sie getäuscht hatte. Sie arbeiteten hart in einer Kleiderfabrik und die Höhe ihrer Löhne war von der Anzahl der gefertigten Stücke abhängig. Die Sprachbarriere machte es für sie schwierig, sich zu verständigen, unterwegs zu sein, Behördenwege zu erledigen usw.
Aber trotz aller Schwierigkeiten hielten meine Eltern durch – aus Stolz. Mit leerer Hand nach Hause zurückzukehren hätte ihr Scheitern besiegelt. In der Zwischenzeit hatten sie den Antrag auf Familienzusammenführung gestellt.
Ein Traum und eine Illusion sollten das Leben von zwei Generationen verändern. Aber Gott hat unsere Familie gesegnet. Ich lebte in einem fremden Land, weit weg von Zuhause, als ich Gott kennenlernte…

Aus der Broschüre On the road … von Ying, China

Ich hörte die Schreie von Menschen

Ich hatte meine Abreise nicht geplant. Ich hätte nie daran gedacht, meine Heimat zu verlassen! An jenem Mittwochabend hätte ich mir nicht vorstellen können, dass ich die Nacht nicht mehr in meinem eigenen Haus verbringen würde. Aber die Stimmen hörte ich ganz deutlich: „Geh! Du musst gehen, wenn du am Leben bleiben willst!“ Ich hörte den Donner von Kanonen und die Schreie von Menschen. Ich fühlte mich wie auf dem Meer treibend, als ob mich der Wind in alle Richtungen wehen würde. Ich fragte mich: „Was soll ich mitnehmen und was zurücklassen?“ Dann schaute ich die vier kleinen Kinder an, die zu mir aufsahen und wusste, dass ich mehr als genug zu tragen hatte. Also nahm ich nur meinen Pass mit.

Wo sollte ich hingehen? Ich ging einfach den anderen Flüchtlingen nach: Richtung Süden zuerst, dann nach Südosten, schließlich nach Westen.
Sehr bald wurden wir nach offiziellen Dokumenten gefragt. Die Grenzbeamten sprachen nicht mehr unsere Sprache. Da wurde mir schlagartig bewusst, dass ich bereits außerhalb meines Heimatlandes war. Ich hatte keinerlei Pläne gemacht und keinerlei Vorkehrungen getroffen. Es schien, als sei ein Weg für mich bereitet, aber es war ein schwieriger Weg, weil ich niemals zuvor in einer solchen Situation gewesen war. Jetzt war ich eine Fremde in einem unbekannten Land.

Die Menschen in dem Land sahen zwar aus wie wir, aber sie waren unfreundlich und haben mich nicht willkommen geheißen. So ging ich von dort weg und zog weiter ostwärts. Dort konnte ich Kräfte sammeln, bevor ich wieder aufbrechen musste. Dieses Mal zu einer viel weiteren Reise. Ich traf Menschen, die ganz anders waren als mein Volk und ihnen doch ähnlich. Und ich lebe noch immer hier.

Das ist meine Geschichte, wie ich Heimat und Familie verließ, sogar meinen Mann, ohne zu wissen, was mit ihm passiert ist oder wohin er geflohen ist. Aber ich hoffe und bete, dass unsere Wege sich eines Tages wieder kreuzen werden.

Aus der Broschüre On the road … von Yvonne, Ruanda

Würde die Polizei uns aufgreifen?

Als ich das Land meiner Vorfahren verließ, wo ich in Lebensgefahr war, wusste ich, dass ich meine Familie nie wieder sehen würde. Ich musste alles zurücklassen, was ich besaß. Ich fühlte mich wie das Volk Israel beim Auszug aus Ägypten: Feinde hinter mir – das Meer vor mir.

Der erste Aufenthaltsort dieser langen Reise sollte in einem Land sein, wo ich mich legal aufhalten durfte. Nachdem ich einen Monat vergeblich auf ein Visum nach Europa gewartet hatte, buchte ich einen Flug in ein Transitland. Ich konnte niemanden von den Leuten ausfindig machen, deren Adressen man mir gegeben hatte. Schließlich half mir jemand. Eine Frau kaufte mir eine Eisenbahnfahrkarte in einen Ort nahe der Grenze und gab mir etwas Geld.

Ich hielt Ausschau nach jemand, der uns über die Grenze bringen könnte, meinen Sohn und mich, zusammen mit anderen aus meinem Land. Ich hatte all unsere Habseligkeiten im Hotel zurückgelassen. Der Mann verlangte viel Geld – und auch meinen Pass.
Wir gingen von der Grenzstadt zu Fuß los. Es war eine eiskalte Nacht und es schneite. Ich dachte, ich würde wegen meiner Herzprobleme sterben. Ich stolperte mehrmals und fiel mit dem Gesicht in den Matsch. Würde die Polizei uns aufgreifen wie die andere Gruppe von Flüchtlingen in der Nacht zuvor? Aber wir erlebten einen besonderen Schutz: die Polizei war wegen der Kälte nicht unterwegs.

Nachdem wir drei Stunden gegangen waren, hatten wir endlich die Grenze überquert. Wir waren dreckig, durchnässt und todmüde. Den ganzen Tag hielten wir Ausschau nach jemand, der uns helfen könnte. Wir hatten nichts zu essen. Wohin sollten wir gehen? Ich kannte niemanden und hatte auch kein Geld.
Ich werde nie die Person vergessen, die zu mir sagte: „Hier kannst du bleiben. Bist du hungrig?“ Ein junges Paar öffnete uns ihr Haus und gab uns saubere Kleidung.
Ich frage mich ja immer:  „Wie soll es weitergehen?“, aber dieses Mal wusste ich, dass ich im „verheißenen Land“ angekommen war.

Aus der Broschüre On the road … von Ester, Iran

Es begann eine unendliche Reise

Es war die Reise von tausend und einer Nacht. So wie Maria und Josef auf die Warnung des Engels hin vor der Gefahr flüchteten, so mussten auch Menschen ihr Dorf, ihr Haus, ihr Heimatland, ihre Nächsten verlassen. Im Bombenhagel, im Kugelregen von Kalaschnikows und mit Todesdrohungen konfrontiert, brachen wir ohne Vorbereitungen ins Ungewisse auf.
Dann begann eine unendliche Reise. Unterwegs trafen wir des Öfteren auf Menschen wie Rahab, die bereit waren, uns aufzunehmen und zu schützen und dabei ihr eigenes Leben zu riskieren. Gott wird ihre Hilfe nie vergessen. Auf dieser schwierigen Reise ist Gott immer da und leitet uns auf dem Weg, den er für uns vorgesehen hat.

Aus der Broschüre On the road … von Yvonne, Ruanda

Ich hatte kaum Chancen

Ich habe meine Heimat aufgrund wirtschaftlicher Schwierigkeiten verlassen. Nach meiner Scheidung reichte mein Gehalt als Kindergärtnerin nicht mehr für meine zwei Kinder und mich aus. Als ich nach drei Monaten als Erntehelferin auf Zypern zurückkehrte, wuchs in mir der Wunsch, an einem anderen Ort ganz neu anzufangen, weil es hier einfach zu schwierig war.

Als ich mit dem Zug in Frankreich ankam suchte ich um Asyl an, auch wenn ich wusste, dass ich kaum Chancen hatte. Ich hielt durch, trotz aller Rückschläge. Und schließlich tauchte ich unter. Viermal wurde ich aufgefordert, das Land zu verlassen. Ich arbeitete schwarz; immerhin hatte ich dadurch eine Unterkunft und konnte die Miete bezahlen. In Abendkursen lernte ich Französisch. Meine Kinder waren bei mir.

In dieser Zeit ging ich regelmäßig in die Kirche. Der Glaube, der mich seit meiner Kindheit begleitet hatte, war mir eine große Hilfe.

Leider beging ich eine Straftat und kam für einige Monate ins Gefängnis. Dort begann ich intensiv in der Bibel zu lesen. Bisher kannte ich die Bibel nur aus dem Gottesdienst. Aber im Gefängnis merkte ich, dass Gottes Wort ganz wichtig ist und alle Christen vereint. Während eines Sonntagsgottesdienstes schloss ich während der Predigt meine Augen und stellte mir vor, zuhause in meiner Kirche zu sein.

Diese Entdeckung der Gemeinschaft mit anderen Christen hat mir Perspektiven für den Rest meines Lebens eröffnet! Die andere gute Nachricht ist, dass ich meine Dokumente und eine Aufenthaltsgenehmigung bekommen habe.

Aus der Broschüre On the road … von Tatjana, Russische Föderation

Einfach als Mensch leben

Mein Leben in meiner Heimat war sehr schwierig. Nicht nur die Armut war bedrückend. Als Christ war ich in meinem Heimatland gesellschaftlich benachteiligt. Ich habe meine Heimat verlassen, um anderswo einfach als Mensch leben zu können. Aber es gab so viele Hindernisse auf meinem Weg! Genug, um auch die stärksten Charaktere zum Aufgeben zu zwingen!

Aber heute haben sich viele Dinge in meinem Leben geändert. Ich bin froh sagen zu können, dass ich in Sicherheit und Freiheit leben kann. Ich kann meinen Glauben ohne Angst vor Verfolgung leben. Ich habe auch die Ausbildung erhalten, die ich brauchte. Ich habe viele Menschen kennengelernt, Christen und Nicht-Christen, die mir liebevoll begegnet sind und mir auf dem Weg geholfen haben.

Trotzdem, meine Situation bleibt schwierig. Mein größtes Problem ist, eine Arbeit zu finden, damit ich unabhängig sein kann. Ich bin oft entmutigt, wenn ich bemerke, dass ich als Ausländer diskriminiert werde. Ich habe den Eindruck, dass mein fremd klingender Name, meine Hautfarbe sowie mein Alter dazu beitragen.

Trotzdem – ich bemühe mich, diese Haltung zu verstehen und auf Menschen offen zuzugehen, wie Jesus es sagt: „Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet.“ (Mt 7,1). Ich bemühe mich, Vertrauen zu haben, Selbstvertrauen, aber vor allem Gottvertrauen. Angesichts aller Schwierigkeiten und meiner persönlichen Schwäche, bemühe ich mich, meinen Glauben zu leben und nicht aufzugeben.

Aus der Broschüre On the road … von Ibrahim, Komoren

Das Heimweh nagt an mir

Nach einer langen Reise zu Fuß, mit dem Bus und mit dem Flugzeug kommen wir schließlich an ein Ziel. Aber – nichts ist so, wie es sein soll. Kaum, dass man beginnt, die wenigen Habseligkeiten auszupacken, kommt schon ein Brief mit der Nachricht, dass man hier nicht bleiben kann. Man kann nicht mehr schlafen, hat keinen Appetit. Das Heimweh nagt an mir.

Schließlich hat man fast vergessen, was es bedeutet, die Wärme innerhalb der Familie zu spüren, die Sicherheit des eigenen Hauses, die Freude an einer warmen Mahlzeit. Man fragt sich selbst, wo Gott eigentlich ist? Er, der doch die Liebe ist, der allmächtig ist, scheint nicht da zu sein. Aber – trotz des scheinbaren Schweigens ist er an unserer Seite, um uns gerade dann zu ermutigen und beizustehen, wenn der Kummer uns zu überwältigen droht.

Aus der Broschüre On the road … von Yvonne, Ruanda

Preis: CHF 6.- / Exemplar

Erhältlich unter bibelshop.ch

Die Broschüre ergänzt die Wanderausstellung Gott hat den Fremdling lieb – Biblische Herausforderungen im Umgang mit Fremden.