Wie feiert man Ostern mitten im Krieg? Das Leid in der Ukraine wächst von Tag zu Tag und die Menschen sehnen sich verzweifelt nach Hoffnung. Die Gewissheit, dass Menschen in Gedanken bei der Ukraine sind und weltweit für den Frieden beten, bedeutet dem UBG-Team viel. Während Raketen auf Kiew niedergehen und Menschen töten und verletzen, erzählt Pfarrer Anatoliy Raychynets von der Ukrainischen Bibelgesellschaft (UBG), wie er die letzte Reise der Seelsorger an die Front während der Osterzeit erlebt hat.
Video von der jüngsten Ostermissionsreise der UBG
Erinnerungen vom Krieg – Ein gestohlenes Leben
Heute hat mich eine mächtige Explosion in der Nähe aufgeweckt. Sie war so intensiv, dass die Tür in meinem Raum aufgeschwungen ist. Ich blickte auf die Uhr; es war 2 Uhr 17 am Morgen. Ich spitzte meine Ohren und vernahm das Geräusch einer Shahed-Drohne, die während etwa einer halben Stunde über mir kreiste. Dann knatterte ein Maschinengewehr und es ertönte eine Explosion. Gottseidank haben sie die tödliche Waffe abgeschossen.
Ich hatte Mühe wieder einzuschlafen, als sich Erinnerungen des vergangenen Tages vor meinen Augen abspielten. Auf der Suche nach einer Gruppe Infanteristen, die uns erwartet hatten, verirrten wir uns in der Nähe von Toretsk. Aufgrund der Störungen durch elektronische Aufklärungssysteme (REB) – feindliche Drohnen jagen unsere Fahrzeuge in Schwärmen – funktionierte das Navigationsgerät nicht richtig.
Wir trafen zufällig einen Soldaten, der sehr froh war, uns zu sehen. Er führte uns freundlich in sein Versteck und bot uns Tee an. Sein Name ist Vitaly und sein Rufname «Staryi» – auf Deutsch: Alter Mann. Diesen Namen hat er sich verdient, weil er seit dem Jahr 2014 bei den Sturmtruppen dient. Unterdessen ist er Rentner und Veteran. Wegen schwerer Verletzungen wurde er entlassen, verteidigt aber weiterhin das Land. Eine Waffe kann er wegen seiner Verletzungen nicht mehr tragen, deshalb arbeitet er als Tankwagenfahrer. Als er die verpixelte Bibel sah, die ich bei mir trug, war er wirklich gerührt. «Pfarrer, 2014 gaben Sie mir auf dem Yavoriv Übungsgelände eine ähnliche Bibel, aber in einem Tarn-Design. Damals brachten Sie ausländische Gäste mit. Ein anderer Priester, der bei Ihnen war, schenkte mir ein weisses Kreuz. Nach der Übung wurden wir in die Region Donezk in der ATO-Zone eingesetzt, und Sie kamen, beteten mit uns und brachten uns Bibeln. Das Kreuz trage ich immer noch um meinen Hals,» sagte er und zeigte es mir, trotz seiner verkrüppelten Hand, die kaum noch funktionierte.
« Doch leider habe ich die Bibel, die Sie mir gegeben haben, verloren, Herr Pfarrer. Ich hatte sie immer dabei und sie half mir, den Glauben an Gott zu finden! Ich las konstant in ihr, besonders das Buch der Psalmen. Dank meines Glaubens überlebte ich all diese Jahre. Wir gerieten in Hinterhalte und wurden beschossen, und während der Zeit im gepanzerten Mannschaftstransporter verlor ich die Bibel. Die Ärzte sagten mir, dass ich wie durch ein Wunder am Leben sei. Meine Genesung war schwierig, aber mein Glaube an Gott hat mich getragen. Die letzten beiden Jahre habe ich den Herrn gebeten, dass er mir eine neue Bibel schenkt. Ich muss Ihnen ehrlich sagen, dass es ohne sie sehr schwierig war. Ich hatte das Gefühl, dass mir die Kraft fehlte. Herr Pfarrer, erinnern Sie sich an mich?»
Ich hatte den Yavoriv Übungsplatz viele Male besucht, wo wir Bibeln verteilten. Während dieser Besuche sprach ich mit zahlreichen ukrainischen Verteidigern und es ist unmöglich, sich an jeden von ihnen zu erinnern. Doch dieser Kämpfer, Herr Vitaliy, bekannt als Staryi, erinnerte sich lebhaft an unser Treffen, weil Gott durch die Bibel zu ihm gesprochen hat, die wir ihm gegeben haben. Dies markierte den Beginn seines neuen Lebens.
Wach im Bett kommt mir der Gedanke, wie selten es ist, dass ein Soldat elf Jahre hintereinander an der Front gegen den heimtückischen Feind gekämpft hat.
Als wir uns verabschiedeten, sagte Vitaliy:
«Ich bin hier, um meinen Glauben an Gott zu teilen und wie er mein Leben verändert hat. Die Leute hören mir zu. Sie sagen, dass es unmöglich ist, elf Jahre an der Front ohne Gott auszuhalten. Bitte gebt mir auch für sie ein paar Bibeln.»
Rev. Anatoliy Raychynets
