Interview über Jordanien

10. Mai 2018

Am 21. November 2017 haben wir einen Leserbrief von PD Dr. Philippe Guillaume, Vereinspräsident Bibel + Orient Museum Freiburg, erhalten. Er bezieht sich auf die Ausgabe 4/2017 unserer Zeitschrift „die Bibel aktuell“ (Download der PDF-Datei). Er schrieb ursprünglich auf Französisch, hier lesen Sie die deutsche Übersetzung:

Da Sie den Lesern die Möglichkeit anbieten, auf das Heft zu reagieren, erlaube ich mir eine freundschaftliche Bemerkung zur Präsentation von Jordanien als eines der sichersten Länder des Nahen Ostens (S. 5) und als tolerantes und friedliches Land (S. 8). Jordanien ist gewiss ein sicheres und friedliches Land, aber nur dank der Abschirmung der ganzen Bevölkerung durch die Armee und den Geheimdienst: ein bleierner Deckel, der besonders in Ma‘an sichtbar ist, 200 Kilometer südlich der Hauptstadt Amman. Dieser Schutzschirm ist eine direkte Folge des Abkommens mit Israel, das Jordanien für eigene Zwecke benutzt und so Jordanien vor den Provokationen und Destabilisierungsversuchen schützt, denen der Libanon und Syrien ausgesetzt sind. Ein sicheres und friedliches Land, ja, aber nicht mehr als Syrien vor der aktuellen Kriegslage. Jordanien tolerant? Viel weniger als Syrien vor dem aktuellen Krieg. Jordanien als tolerant einzustufen, ist fast gleich wie die Verteufelung von Syrien sowie dem Irak, und zudem die Lage in Jordanien zu verschweigen.

Wir haben nachgefragt und Sie können hier das ausführliche Interview mit PD Dr. Philippe Guillaume über Jordanien lesen:

Herr Guillaume, wie oft haben Sie Jordanien besucht?

Ich habe Jordanien zum ersten Mal 1997 besucht anlässlich einer Studienreise, organisiert durch die Professoren des Alten Testaments der Universität Genf. Das zweite Mal war ich 2014 dort mit amerikanischen Studierenden. Beide Male machten wir ungefähr den gleichen Parcours, von den grossen Stätten im Norden (Gerasa, Umm Qais) bis nach Petra und Wadi Ram im Süden.

Worauf stützen Sie Ihre Ansichten zu Jordanien?

Ich habe drei Jahre im Libanon gelebt, wo ich Studierende aus dem Libanon, Syrien, Griechenland, Armenien, Iran und Sudan unterrichtet habe. Das erlaubt mir, die Eigenheiten der Länder des Nahen Ostens ein Stück weit miteinander zu vergleichen.

Sie schreiben, dass Jordanien ein sicheres und friedliches Land sei, aber nur dank der Abschirmung der ganzen Bevölkerung durch die Armee und den Geheimdienst. Wie zeigt sich das genau?

Wenn man gewisse heikle Themen anspricht (wie Iran, Hisbollah, Gaza), reagieren die Jordanier nicht mit der Meinungsfreiheit der Libanesen, sondern vorsichtig wie die Syrer. Das zeigt, dass private Äusserungen über die Politik polizeiliche Konsequenzen haben können.

Wie ist dieser bleierne Deckel sichtbar in Ma‘an?

Als ich 2014 dort war, umringten Panzer Ma‘an, ihre Kanonen auf das Stadtzentrum gerichtet. Das erinnert an die libanesischen Tanks, die das palästinensische Flüchtlingslager ‘Ain el-Hilweh in Saïda umzingeln. Ob Blei oder Stahl, es ist auf jeden Fall hartes Metall, denn Ma‘an, das Zentrum des ärmsten Distrikts Jordaniens, wurde häufig als jordanisches Nest von Daesh (Islamischer Staat) bezeichnet.

Wie ist die Lage in Jordanien Ihrer Meinung nach?

Einfach gesagt ist die Situation in Jordanien eingefroren. Die Bewegung des Arabischen Frühlings (2011-2012) wurde in Jordanien schnell unterdrückt. Das kann man verschieden sehen: die Jordanier hatten keinen Grund, gegen ihre Regierung zu demonstrieren, oder aber der König hat die Verbreitung des Frühlings verhindern können. Damit waren die Rückkehr des Winters und seiner Repressionen, wie sie in Ägypten und Syrien folgten, nicht nötig.

Welche Folgen hatte das Abkommen mit Israel für Jordanien? Für welche eigenen Zwecke hatte Jordanien das Abkommen mit Israel genutzt?

Die Normalisierung der Beziehungen zu Israel sind, wie in Ägypten, der Preis für die amerikanische Unterstützung der herrschenden Militärregimes. Praktisch sieht das so aus: Ladungen mit jordanischen Gütern (Phosphate) überqueren die jordanisch-israelische Grenze in Beth-Shean, wo ein Güterumschlagplatz Strasse – Schiene auf Hochtouren läuft. In Galiläa geht das Gerücht um, dass Saudi-Arabien die kürzliche Verlängerung der Zuglinie von der Hafenstadt Haifa bis nach Beth-Shean finanziert habe. Am Schluss könnte diese Linie die arabische Halbinsel via Jordanien erreichen. Seit dem Krieg in Syrien erreichen türkische Lastwagen Haifa über das Meer und gelangen über Beth-Shean nach Jordanien; früher fuhren sie durch Syrien.

Können Sie uns das Verhältnis von Jordanien zu Syrien und dem Irak darlegen?

Die Präsenz von Millionen Flüchtlingen aus Syrien und Irak in Jordanien, in der Türkei und im Libanon ist ein wichtiger Faktor. Noch wichtiger ist, dass sich nach Daesh mit der Zusammenarbeit zwischen Israel und Saudi-Arabien eine Verstärkung der anti-iranischen Achse abzeichnet. Die offizielle Anerkennung von Jerusalem als Hauptstadt Israels durch die USA (Dezember 2017) beendet den jahrzehntelangen Schein und zeigt offen, was seit Jahren unter der Hand geschah. Die beiden besten Verbündeten der USA in der Region, Israel und Saudi-Arabien, verstecken ihre Zusammenarbeit nicht mehr.

Sie basiert auf einer Interessensgemeinschaft, die durch zwei neue geopolitische Faktoren verstärkt wird, die die Lage in der ganzen Region verändert:

1. Die Amerikaner werden bald ein grosser Erdöllieferant sein, was ihre Beziehung zu Saudi-Arabien in Frage stellt.

2. Die Aufmerksamkeit der USA richtet sich zunehmend auf China, was das strategische Gewicht des Nahen Ostens allgemein und Israels besonders vermindert.

Um die starken Beziehungen zu den USA zu behalten, vertreten Saudi-Arabien und Israel immer mehr amerikanische Interessen im Nahen Osten. Das sieht man an der zunehmend aktiven Rolle dieser beiden Länder im besetzten Palästina (Bau von Kolonien), in Gaza (Blockade), im Libanon (fantastischer Rücktritt des Ministerpräsidenten Sa‘ad Hariri), in Jemen (gegen die Houthies), in Bahrein (gegen die mehrheitlichen Schiiten) und in Qatar (Blockade). Jordanien wird durch diese Spiele gestärkt. Das kleine Land kann keine Hauptrolle spielen, aber aus der Peripherie wird Jordanien zu einer Brücke, die den Export von israelischen Gütern in den arabischen Raum erleichtert und gleichzeitig den Zugang zum Mittelmeer für saudi-arabische Exporte ermöglicht, die so den Suezkanal vermeiden können.

Warum finden Sie, dass Jordanien weniger tolerant ist als Syrien vor dem aktuellen Krieg?

Der bedeutendste Unterschied zwischen Jordanien und Syrien ist die Situation der palästinensischen Flüchtlinge. Anlässlich des Schwarzen Septembers (1970-1971) wurden Tausende von Zivilen und palästinensischen Freiheitskämpfern getötet. Der palästinensische Widerstand hatte sich in den Libanon zurückgezogen, was für Israel der Vorwand war, diverse Invasionen und Besetzungen im Land der Zedern zu organisieren. Jordanien bleibt mehrheitlich von Palästinensern bewohnt. Damit Israel nicht die in Cis-Jordanien lebenden Palästinenser abschieben kann, erteilt Jordanien die volle Staatsbürgerschaft nur an wenige palästinensische Flüchtlinge. Viele bleiben zweitrangige Bürger oder sind staatenlos, mit allen damit verbundenen Problemen und Diskriminierungen. Syrien dagegen ist das Land im Nahen Osten, das den palästinensischen Flüchtlingen die besten Lebensbedingungen geboten hat, bis der Konflikt Israel-Palästina geregelt ist. Es ist jetzt zu früh um zu wissen, was aus Syrien und dem Irak wird. Die grossen Unbekannten sind der Status der Kurden und die Rolle von Russland, die in der Region Vermittler sein könnte.

Zum Abschluss: Es ist normal, dass die Jordanier ihr eigenes Land als friedlich und tolerant empfinden. Aber wir dürfen nicht vergessen, dass Jordanien durch das Friedensabkommen mit Israel und die Unterdrückung der Islamisten von den Krisen verschont blieb, die heute noch Palästina, Syrien, den Libanon und Irak zermürben.

Die Bibelleserinnen und Bibelleser können selber gut die Entwicklungen verfolgen in den biblischen Ländern. Sie sollen aber die geopolitische Perspektive mit den aussenstehenden Faktoren nicht vergessen. Es geht nicht darum, die Zukunft in einer Kristallkugel zu lesen, sondern bei der aktuellen Lage die strukturellen von den ereignishaften Elementen zu unterscheiden. Die Strukturen und Gegebenheiten haben sich kaum gewandelt seit dem, was man in den biblischen Texten finden kann. Die hetitischen, ägyptischen, mesopotamischen und persischen Zentren entsprechen heute der Türkei, Ägypten, Irak und Iran. Das Ereignishafte, Bilder und Zahlen, das wir heute in Zeitungen und Fernsehen finden, steht im Dienst von Interessen, die uns auch direkt betreffen.

Um wirkliche Friedensstifter zu sein (Matthäus 5,9) reicht es nicht, sanft wie die Tauben zu sein. Die Leser des Evangeliums müssen auch schlau wie eine Schlange sein, denn wir sind wie Schafe unter Wölfen (Matthäus 10,16). Wenn wir die Unterscheidung nicht machen, hat unser Glaube wenig Einfluss auf das, was uns umgibt. Ja, Jordanien ist ein schönes Land, es verdient einen Besuch wie die anderen Regionen des «Heiligen Landes» (Palästina, Israel, Libanon, Syrien, Türkei, Ägypten). Aber es ist nötig, über die Titel in den Reiseführern hinauszublicken.

PD Dr. Philippe Guillaume ist Vereinspräsident des Bibel + Orient Museums in Freiburg und Privatdozent am Institut für Altes Testament an der Universität Bern. Seit 2013 ist er Mitglied des archäologischen Grabungsteams der Jezreel Expedition. Seine aktuellen Forschungsschwerpunkte umfassen u.a. biblische Zeitmessung und Kalender sowie das Alte Testament aus landwirtschaftlicher Perspektive.

Text Original Französisch, Übersetzung: Esther Boder