Gedicht „Darf ich vorstellen“

10. Juni 2015

Am Deutschen Evangelischen Kirchentag 2015 in Stuttgart hat die Autorin Christina Brudereck ihr Gedicht „Darf ich vorstellen“ vorgetragen. Christina Brudereck ist eine deutsche Theologin und Schriftstellerin. Mit ihrer freundlichen Genehmigung dürfen wir das Gedicht hier publizieren. Erfahren Sie, wie die Bibel sich selber vorstellt – überraschend anders.

Darf ich vorstellen

Darf ich mich vorstellen?
Ich bin ein Bestseller
Die edle Gabe
Ich bin Schatz
Darf ich mich vorstellen
Ich bin Weltliteratur
Eine riesige Sammlung von Erfahrung
Nicht Wiki, Wissen, sondern Weisheit
Eine ganze Bibliothek – für die Handtasche
Das meist verkaufte Buch der Welt
Ich bin eine große Erzählerin
Man nennt mich „Trösterin“
Und „Lehrerin der Kirche“
Oder auch „Kritikerin des Establishments“
Ich habe immer wieder irgendwo Mitspracherecht
Es gibt mich in mehr als 2000 Sprachen
Neuerdings, das ist schön, auch in gerechter (ach, ich liebe Hirtinnen!)
Ich kenne Beginn, Genesis und frühen Morgen
Ich kenne Gebot, Puste und Pause, Shabbat und siebten Tag
Leviten werden mit mir gelesen und Freiheitsbewegungen inspiriert
Ich weiß von Klugheit und Hiobsbotschaft
Von Unterbrechungen, Geburten und Gräbern
Geschichte und Prophetie
Ich kenne viele Gebete, Klagen, Bitten, Staunlieder
Und Offenbarungen
Ich bin voller Theopoesie vom Feinsten
Und, kennen Sie das? Ich versteh mich manchmal selber nicht
Muss zwei Mal hingucken
Ich stecke voller Widersprüche
Oft mit Absicht
Denn wer will schon gerne schlicht sein
Ich kann aber auch sehr klar sein
Besonders bei meinen Lieblingsthemen
Armut und Würde
Fremde, Waisen, Kinder
Gerechtigkeit, Gnade
Ich liebe das Gespräch
Wir alle sind ja kein unbeschriebenes Blatt
Ach. Ich fühle mich manchmal alleine, im Regal
Rücken an Deckel mit meinen Freundinnen der Literatur
Und werde gerne angesehen, gelesen
Mag es, ein Gespräch zu inspirieren
Ich diktiere ja nicht
Ich liebe den Dialog, Inspiration, Gegenseitigkeit
Sich zum Sprechen zu bringen
Eine echte Autorität wie ich kann sich das leisten, meine ich
Also, fragen Sie mich ruhig, ich halte das aus
Ach – ganz schön ist auch das:
Dieser Moment, wenn ich in der Kirche nach dem Ja-Wort überreicht werde
als Geschenk an ein ganz frisch getrautes Paar
Ich bin zwar alt, uralt
Aber mit Goldschnitt mache ich was her
Oder mit buntem Cover oder in Leder
Und doch, auch das ist wahr: Ich habe häufig ganz dünne Seiten
Aber was hat man nicht auch schon alles mit mir gemacht hat?
Die Wissenschaft…
Da wurde geschieden, getrennt, umbenannt
Worte wurden getilgt, gelöscht, interpretiert
Mir wurden Kultur, Moral und Hautfarbe aufgezwungen
Gewohnheiten haben mich umgeformt
Und meine tiefen Schichten, meine schönen Doppeldeutigkeiten mussten verstummen
Manchmal möchte ich schreien: Lasst mich selber zu Wort kommen
Gebt mir meine Stimme
Etwas mehr Respekt, bitte
Etwas mehr Frieden, bitte
Legt eure Waffen nieder
Ich wurde benutzt, missverstanden, ja, auch missbraucht
Ich wurde verbrannt, verboten
Denn oh ja, ich kann gefährlich sein
Denken Sie nicht, ich wäre harmlos
Ich habe schon Leben gerettet
Ich wurde schon nass geweint
Und von Händen und suchenden Augen durchstreift
Meine Trostkraft ist unglaublich
Ich wurde, by heart, auswendig gelernt, gesungen, vertont
Ich erzähle nachdrücklich von Auferweckungs-Energie
Ich mahne eindringlich zum Frieden,
Ich werbe ausdauernd um die Liebe
Mit ihr fühle ich mich am Besten verstanden
Darf ich mich vorstellen
Ich bin die Bibel

© Christina Brudereck
Alle Rechte bei der Autorin

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